erschienen im Campus Verlag
am 02.05.2013, 283 Seiten
Hardcover gebunden 19,99 €
E-Book (EPUB/PDF) 16,99 €
EAN 9783593398037
Über die Entstehung des Buches
Die Autorin, Susanna Filbinger-Riggert, ist eine Tochter des ehemaligen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Hans Filbinger. Eines von fünf Kindern, vier Töchter, ein Sohn. Schon lange hatte sie tief in ihrem Inneren das Gefühl, sie müsste ihr Leben und ihre Erlebnisse aufschreiben. Endlich einmal ihre eigene Sicht der Dinge darlegen. Gerüchte klar stellen. Verwicklungen auflösen. Es hat in ihr „geglüht“, und sie hatte das Bedürfnis, sich alles vom Herzen zu schreiben und sich von einer schweren Last zu befreien. Auch die Teilnahme an Schreibseminaren, die Gründung einer Schreib- und Lesegruppe und Unterstützung der Schriftstellerin Liane Dirks, die ihr mit Rat und Tat zur Seite stand, führten schließlich zur Umsetzung der Idee für ein Buch.
Die Entdeckung der Tagebücher von Hans Filbinger stellte das i-Tüpfelchen bei den Recherchen zum Buch dar. Zufällig beim Ausräumen der elterlichen Bibliothek von Susanna Filbinger-Riggert entdeckt, boten sie neue Einblicke in das Leben des Vaters, seine eigenen Ansichten, Erfahrungen und Gedanken, neue Perspektiven zum Menschen und zur Person Hans Filbingers.
So schritt die Entwicklung des Buches voran. Letztendlich ist es eine Vater-Tochter-Biografie geworden, bei der die Tochter das gemeinsame Leben aus ihrer Sicht literarisch beschreibt. Sie findet den Mut, sich selbst in den Fokus zu setzen und von sich zu erzählen und befreit sich vom ständig in der Öffentlichkeit und der Kritik stehenden Vater. Es ist eine Reise in die Selbstständigkeit, mit Höhen und Tiefen. Mal lebt sie ein sorgloses, unbeschwertes Leben, mal gibt es bittere Tränen. Und während sie schreibt und schreibt, kommt sie dem Vater immer näher.
Kindheit – eigentlich begann alles ganz normal
Eine Familie wie jede andere im Deutschland der Nachkriegszeit. Susanna Filbinger-Riggert lebt als Kind ein einfaches, bescheidenes Leben ohne besondere Annehmlichkeiten. Sie lernt, dass Geld knapp und Sparsamkeit Ehrensache ist. Das gilt auch für die täglichen Mahlzeiten. Hungern muss die Familie nicht, aber die Eltern wissen noch, was es heißt, mit Entbehrungen zu leben. Deshalb wird gegessen, was auf den Tisch kommt:
„Eine kinderreiche katholische Familie, die in einem Vorort von Freiburg wohnte. Das Haus war gerade gebaut worden, die Zimmer waren klein für heutige Verhältnisse, Bett und Tisch passten rein, ein Schrank, ein Bücherregal, selbstverständlich mussten wir Geschwister uns später ein Zimmer teilen. Nicht nur weil das Geld knapp war, was zweifelsfrei der Fall war. Aber es galt, Bescheidenheit zu üben. Sparsamkeit war eine Tugend und vor allem zählten Leistung und harte Arbeit. Das brachte einen weiter im Leben. „Ihr wisst gar nicht, wie gut es Euch geht“, wiederholte unsere Mutter unzählige Male bei Tisch, insbesondere, wenn es die von mir so gehasste Brotsuppe gab. Ein Gemisch aus Wasser und Brotresten, das sowohl eklig roch als auch eklig aussah. Und selbstverständlich musste der Teller leer gegessen werden, es gibt wohl keinen aus der Fünfzigerjahre-Generation, dem diese Rituale erspart geblieben sind.“ (Buchzitat S. 19)
Bergsteigen – „Schule und Abbild des Lebens“
In der Familie Filbinger hat das gemeinsame Wandern Tradition. Jeden Sonntag geht es nach der Kirche in die nahen Weinberge zum Wandern und im Sommer zum Bergsteigen in die Alpen. Der Vater erzählt Geschichten und Geschichte. Er lässt die Kinder ihre Umgebung entdecken und erklärt ihnen die Natur: Pflanzen, Tiere, Berge, Wälder. Oftmals gibt es aber auch Genörgel, weil die Kinder früh aufstehen müssen, der Weg so weit ist, die Füße weh tun, Geschwister oder der Vater nerven. Erst später begreift Susanna, dass diese Wanderungen kostbare Familienzeiten sind, intensive Stunden nur für und mit der Familie. Und dabei kann es durchaus lustig zugehen:
„Nur beim alljährlichen Bergwandern oder Bergsteigen im Sommer, wenn alle zusammen waren, dann kam es mir so vor, als ob doch alles in Ordnung sei bei uns in der Familie. So jedenfalls drückte es auch einmal meine jüngste Schwester Alexa aus, als sie die Hunderte von Fotos aus sechzig Jahren Familiengeschichte zu sortieren versuchte. Alles Bergsteiger-Fotos – Fels und Firn, Pickel und Seil, Bergstiefel und Rücksäcke … Nach zehnstündigen Wanderungen entstand allerdings bisweilen eine Lockerheit, die in Kissenschlachten münden konnte, oder wir schleuderten unsere Bergsocken auf Vaters Haupt, damit er endlich mit dem Schnarchen aufhörte. Davon gibt es freilich keine Fotografien.“ (Buchzitat S. 89-90)
Rebellisch und allein
In einem streng strukturierten Elternhaus hat es ein eigenwilliges Kind nicht immer leicht. Susanna Filbinger-Riggert merkt früh, dass sie ihre eigenen Freiräume und selbst gewählte Entwicklungsmöglichkeiten braucht. Sie spürt die innere Kraft und beginnt zu rebellieren:
„In mir war von Anfang an etwas Aufbegehrendes, ja oft Widerborstiges, Wildes. Die Tatsache, dass unmittelbar hinter unserem Haus der Wald anfing, mag mich in meiner Abenteuerlust noch gefördert haben. Die Natur, das Unterholz, die Bäume, die Tiere, das alles schmeckte nach Freiheit.“ (Buchzitat S. 33)
„Endlich kein Ziel, mehr vor Augen hatte ich, als ich von der Grundschule Günterstal auf das Goethe-Gymnasium in Freiburg wechselte, da war ich zehn. Jede Sekunde genoss ich, in der ich meine Freiheit hatte, und diese Freiheit nutzte ich aus, ohne Rücksicht auf Verluste. (…) Die Beschwerde vom Kloster über das Benehmen der Tochter des Herrn Minister ließ nicht lange auf sich warten. Und dann schickten auch die Stadtwerke Freiburg eine Abmahnung an meine Eltern: Tochter Susanna sei mehrfach ohne gültigen Fahrausweis angetroffen worden. Zwanzig Mark Strafe müssten gezahlt werden. „Das Ansehen der Familie hat Schaden genommen“, schimpfte mein Vater, als er davon erfuhr. Und dann kamen die ersten schlechten Noten, die ich allerdings nicht vorzeigte, und schließlich die blauen Briefe von der Schule … (Buchzitat S. 34-35)
Die große Liebe
Eine tiefe Prägung im Leben hinterlässt wohl bei jedem die erste große Liebe. Die Erinnerung an ein undefinierbares Kribbeln im Bauch und das Gefühl, dass alles um einen herum völlig gleichgültig ist. Auch bei Susanna Filbinger-Riggert war das so. Ihre Begegnung mit einem jungen Mann aus dem Bekanntenkreis ihrer Eltern verändert alles:
„Er trug ein braunes Tweedjackett und Hosen aus grünem Kord, passend zu den Augen. Braune Augen. Darunter ein fein geschwungener Mund. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich ein einziges Wort herausbrachte, er aber erzählte von sich und zwar so, dass er durchaus zu dieser hier anwesenden Familie gehörte, aber andererseits auch wieder nicht. Nein, sagte er, auf die Jagd ginge er nicht. Als Einziger in der ganzen Familie, denn auf Tiere könne er nicht schießen. Sein Hobby sei das Lesen und das Sammeln von Antiquitäten. Und Gedichte, die sammle er auch, allerdings im Kopf, er lerne sie auswendig. Jeden Tag ein Gedicht. Er lächelte, wir hörten unseren Eltern zu, wie sie sich austauschten, wir tranken Tee, wir sahen uns an. Etwas sehr Scheues wurde wach in mir, etwas Scheues und zugleich sehr Großes. Das nennt man wohl Liebe, darüber galoppierte mein Herz hinweg, als wollte es mich zum Platzen bringen. Es kann durchaus sein, dass ich es schon damals wusste, dass eine Tür für mich aufgegangen war, die Tür zu etwas Neuem, „Zukunft“ stand darauf. (Buchzitat S. 62-63)
(…) Wer liebt, sieht alles anders, als er es bisher gesehen hat. Von nun an war Tito der Mittelpunkt meines Lebens, meiner Gedanken, Gefühle, meines Seins, meiner Existenz. Von nun an gehörten wir zusammen. Die gemeinsame Nacht im Wald, das gemeinsame Verharren bis zum Morgengrauen waren mächtiger als Worte, unsterblich, stärker als jeder Treueschwur. Wie von unsichtbarer Hand geführt, steuerten wir in die gleiche Richtung. (Buchzitat S. 65)
Über den Wolken
An Christi Himmelfahrt im Jahr 1978 hatten sich Journalisten zu einem Interview im Hause Filbinger angemeldet, weil zuvor ein Todesurteil mit Hans Filbinger als Anklagevertreter aufgetaucht war. Sie verlangten Erklärungen.Während es für ihren Vater im wahrsten Sinne des Wortes um Leben und Tod ging, vergnügte sich Susanna mit kapriziösen Ausflügen. Sie wollte nur weg. Sie wollte Ihr eigenes Leben.
„Ich hatte eigene Pläne für diesen Himmelfahrtstag gemacht und zwar keineswegs, wie ich es heute tun würde, erst einen Gottesdienst zu besuchen. Nein, an diesem Feiertag hatte ich ganz anderes vor: Ich wollte nach Italien! Ein Tagesausflug in einem kleinen Sportflugzeug, einem vogelähnlichen Gerät, stand auf meinem Plan. Und zu Hause hatte ich noch nicht einmal eine Notiz hinterlassen, als ich mit zwei Freunden, wir kannten uns aus meiner Zeit mit Tito, in aller Herrgottsfrühe zum Sportflughafen nach Augsburg zu unserem kleinen, verwegenen Abenteuer aufbrach. In einer Art Pappschachtel, so empfand ich es, saß ich dann, eingeklemmt zwischen meinem mehr als korpulenten Freund York (…) und seinem Pilotenkameraden, dem auch dann das Grinsen im Gesicht nicht verging, wenn die „Schachtel“ ruckartig absackte oder so nah an die Felszacken der Alpenkette geriet, dass mir der Atem stockte. Durch die neblige Alpenkette segelten wir an jenem Himmelfahrtstag in den sonnigen Süden. (…) Während zu Hause in der Bibliothek über Leben und Tod, Recht und Unrecht während des Krieges debattiert wurde, befand ich mich über den schwarz-grau felsigen Abgründen von Viertausendern. So nah ich meinem Vater war, im selben Haus wohnend, so weit entfernt voneinander waren wir an jenem wichtigen Tag.“ (Buchzitat S. 135-136)
Mit Mutter auf Stimmenfang
Es wird Susanna Filbinger-Riggert schnell klar, was es bedeutet, eine Politikertochter zu sein: Schon als Kind ist sie „verpflichtet“, ihren Vater zu unterstützen und im Wahlkampf aktiv mitzuwirken. Die ganze Familie wird eingebunden und steht zusammen mit dem Patriarch Hans Filbinger in der Öffentlichkeit.
„Luftballons zu verteilen hatte uns Kindern natürlich Spaß gemacht, direkt zu den Leuten in die Siedlungen zu gehen, „Klinke zu putzen“, dagegen nicht. Die Menschen, die in den Siedlungen lebten, waren nur schwer zu überzeugen, das hatten sogar wir Kinder schon verstanden. Das waren alles Arbeiter, die „Roten“ oder „Sozis“, wie Mutter sie auch nannte. Viele Treppen rauf und runter mussten wir laufen. Klingeln bei wildfremden Menschen, in der Hoffnung, dass sie aufmachten. Oft mussten wir sehr lange vor den Türen warten. Würden sie dieses Mal zuhören, wenn Mutter zu reden beginnt, oder würden sie gleich wieder abweisend sagen: „Nein danke, wir sind von der anderen Partei“? Das fühlte sich immer so unangenehm im Bauch an.“ (Buchzitat S. 26)
Aber es gibt sie auch, diese unbeschwerten Momente einer normalen Familie, in denen nicht die Politik und das Leben der anderen im Mittelpunkt stehen, sondern die Unbeschwertheit, die Leichtigkeit des Lebens, wenn man einmal nicht den kritischen Blicken der anderen ausgesetzt ist. Diese Augenblicke waren in der Familie Filbinger allerdings sehr selten:
„Nach der Aufführung gingen wir zu mir und plötzlich trat Mutter aus dem Bad, hatte sich eine leere Klorolle ins Haar gebunden, die Evitafrisur nachahmend, und ein Betttuch umgeworfen und schmetterte „Don’t cry for me Argentina“. „Typisch, Inge!“ Vater bog sich vor Lachen, ja es gab auch diese Momente, wenn er, wenn die beiden alles abschütteln konnten.“ (Buchzitat S. 173)
Was wirklich zählt – Johannes Paul II. und Gottesglaube
Anlässlich des 30. Hochzeitstages der Eheleute Filbinger fährt die ganze Familie nach Rom. Sie genießt den Besuch der Museen, Gärten und Paläste und erwartet voller Spannung den großen Tag: eine Audienz bei Papst Johannes Paul II.
„Ich war die erste in der Reihe, als Papst Johannes Paul II. sich uns zuwandte. „Sie sind die Erstgeborene“, sagte er zu mir mit tiefer Stimme, rollte das r, nahm meine Hand in seine, legte die andere darüber, drückte sie fest und übergab mir ein rotes Kästchen mit einem geweihten Rosenkranz. Dann blickte er mir noch einmal in die Augen und ging auf meine Schwester Bärbel zu. Ich habe ein Foto, das von dieser Szene gemacht wurde. Wie einen Schatz habe ich es gehütet über die vielen Umzüge hinweg. Auf diesem Foto stehe ich ihm gegenüber und lache ihn an. Der Satz mag sich selbstverständlich anhören, doch ich verstand ihn erst viel später, als mir bewusst wurde, was dieser Satz für mein späteres Leben bedeutete.“ (Buchzitat S. 178-179)
Ergänzende Anmerkung Susanna Filbinger-Riggert: Ohne es zu ahnen, führte die Begegnung mit Johannes Paul II. als damals 28-Jährige in Rom viele Jahre später zu einer geistigen und religiösen Umkehr – einem eigenen spirituellen Weg. Krisen und Herausforderungen waren nur der Auslöser für diese Wandlung. Die Jugend von Karol Woytila, seine enge Beziehung zu Gott – insbesondere in Zeiten persönlich erlebter Tragödien – hinterlassen tiefe Spuren und führen zur Beschäftigung mit den Grundlagen unserer Existenz.